Gestern gab es kein Netz, denn gestern ankerten wir vor Iona, der Insel der schottischen Könige. Unsere Umrundung von Schottland haben wir gestern in Oban abgeschlossen. Da noch drei Tage verblieben, haben wir uns noch die Umrundung von Mull zur Brust genommen. In Iona wurden nicht nur die Gebeine von Macbeth niedergebracht, sondern 48 weiterer schottischer Häuptlinge. Sie kehrten zum Schoß ihrer Christianisierung zurück. Denn von dieser Insel startete um 500irgendwas der neue Glauben, den Columban aus Irland brachte. Die Protestanten schließlich ließen den Friedhof räumen und kippten die Gräber mit kalter Hand samt Inhalt ins Meer. Aufräumen. Paradigmawechsel mit Funkenflug. Es hat lange und blutreich gekracht in Schottland. Noch heute gibt es leidenschaftlichen Disput zwischen den Konfessionen.
Heute gingen wir unter Segeln nach Norden nach Staffa, einem malerischen Gestade aus Basalt und Wiese. Ein fotografischer Traum, den ein Vulkan ins Meer hämmerte. Dann rundeten wir Mull und liefen erneut in Tobermory ein. Das immerwährende Glück unser drei Wochen zauberte noch ein Sahnehäubchen hervor. Der Chor von Mull gab ein Ständchen in einem Pub. Es war ein ergreifendes Konzert gälischer Gesänge. Der zweite Bass erzählte uns, dass es verwandschaftliches Gefauche in unseren Sprachen gibt. Also in der deutschen und der gälischen. Die Wurzel dieser Springs wären die Kelten. Von ihnen blieb uns ein gemeinschaftliches Fauch. Cccch! Das stimmt mich sehr melancholisch und friedlich. Soweit reichen unsere Adern, tausende Jahre zurück. Was ist dagegen Brexit, EU und schottische Separation? Was der hegemoniale Anspruch der hunnischen Wirtschaftsmacht? Ein müder Furz. Aber immer leben alle Menschen im Jetzt. Genau im Jetzt. Die Kelten, wie auch wir, die Germans und die Gälics, die Skoten, die Schotten, die bloody Krauts. Und wir entscheiden jetzt, schmieden die Weichen für die nächsten Desaster oder wie wir auch durchaus feststellen dürfen, für einen nun schon beinahe historischen europäischen Frieden, wenn wir den brennenden Balkan und den Donbass zynisch in den Skat drücken würden. Ich bin konsterniert, wieviel man erlebt, wenn man hinaus geht, bestaunt, aufnimmt, untersucht, vergleicht und sammelt, gleich meinem Spiritus Rector in tempora Lois Agassiz, dem ich mich auf diesem Trip verpflichtet fühlte. Amaaaazing!
Ach ich vergass noch zu erzählen, dass wir Jura passierten. Ein Anlegen an diesem wilden Gestade war uns nicht gegeben, da die Klippen viele Dutzend Meter die Nordseite von Jura abriegeln. Der Südzugang hätte unseren Kalender gesprengt, dafür ist die Insel zu groß. Groß ist auch das erste Wort, wenn ich an das Werk denke, was auf Jura entstand. George Orwell saß hier in düsterer, windiger wie auch sonnendurchfluteter Verlassenheit und schrieb seinen Jahrhundertroman: 1984. Ich hatte mir das Vergnügen gemacht, ihn vor der Reise noch einmal zu lesen. Es hatte mich schlicht vom Hocker geweht. Natürlich ist es Teil meines Jobs zwanghaft Zusammenhänge herzustellen. Und wenn wir hier an Tschernobyl vorbeigesegelt wären, hätten ich das Paradigmathema aus dem geborstenen Reaktor schon heraus gezwirbelt. Ist ja auch nicht wirklich schwer. Aber als ich in Orwells Albtraum hinabstieg, hämmerte sich als erstes das Wort „Gedankenverbrechen“ in das Denkfeld meiner Wahrnehmung.
Es ist immer das Gedankenverbrechen, was am Anfang eines Paradigmenwechsels steht. Klaro. Jemand akzeptiert die verordnete Wahrnehmung nicht und wagt den anderen Blick. Dietmar würde sagen, den schlesischen Blick, den mißgünstigen und bösen. Es ist das große Ablehnen, das leidenschaftliche sich Behaupten gegen eine massive Erkrankung der allgemeinen Wahrnehmung. Die Keimzelle ist die Anomalie. Man ist anders und man kann nicht mehr, als anders zu sein. Man stirbt dafür, wenn es sein muß. Auch wenn sie einem die Instrumente zeigen. Soviele Namen rauschen mir durch den Schädel. Natürlich Galileo, Kopernikus, Einstein, Agassiz. Aber auch all die 9/11-Truther, von Danielle Ganser, Matthias Bröckers, Ken Jebsen bis Xavier Naidoo. Und auch Hauke Trinks, Peter Scholl-Latour, Jens Triebel, Chris Withley, Hans von Storch. Mutige Menschen, denen ich begegnet bin. Alle bereit, sich aus dem Fenster zu lehnen, obwohl es inzwischen schon am Fenster mangelt. Obwohl es draußen Eier regnet. Scheißegal. Legal. Illegal. Scheißegal. Allesamt Gedankenverbrecher. Wir hätten hier auf Jura eine Party feiern sollen und einen Plan schmieden, für einen neuen Paradigmenwechsel, um die ausgehöhlte Idee der parlamentarischen Idee neu zu konstituieren.
Dietmar erzählt mir im Interview, wie er für das Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin kandidierte und wie ihm übel von seiner Partei mitgespielt wurde. Die Struktur hat ihn abgestoßen wie einen mistigen Schlüpfer. Die Struktur lässt nicht zu, dass wer von außen reinkommt, ändert sogar notfalls die Regeln, wenn sie wie in Diddis Fall aus Versehen die Tür offen gelassen hatte. Was Orwell schrieb, hatte nicht nur in der UdSSR und der DDR und der VRP und der CSSR und der VRU und der VRB und den fuckfuckfuck all den anderen totalen Ostblockstaaten seinen gültige Entsprechung. Es ist erschreckend, wie man das Heute in Orwells Werk widerhallen hört. Ich fühlte mich beim Lesen gleich einem Shock-Headed Peter, dem der eigene Struwelpeter um die Ohren fliegt. Ich mag mich gar nicht weiter in Details ergehen. Jeder kann das Experiment selbst vollziehen. Und Orwell lesen! Ihn in sich reinfließen lassen. Gütiger! Damned shit! Natürlich leben wir nicht in einem durchgeknallten Kim-Jong-Un-Staat. Unsere Strukturen sind auf der Höhe der Zeit. Raffiniert, vollendet und verlogen, betörend und vertrackt, abgefuckt und geschmeidig. Nahezu unantastbar, undurchschaubar und überlegen. Die Tatsache, dass ich dies hier überhaupt schreiben darf, belegt das mächtige Update Orwellscher Systematik. Wir können das System mit hohem Bein anpinkeln, ihm gar in die Stube scheißen. Das Systemische wartet nur auf unsere Gedanken. Die Verwurstung des Rebellischen zu Klamauk, Verschwörungstheorie oder Kommerz erwartet jeden, der das Maul aufmacht. Die Nischen sind bereitgestellt. Fickzellen mit Fernheizung, wie Heiner Müller schrieb. Es gibt für jeden ein warmes Plätzchen. Wir sind umzingelt von unserem eigenen Paradigma. Denn letztlich hat der Mensch in seiner beschissenen Gier diesen Quatsch erschaffen. Wir sind Gefangene unseres Denkens. Punkt. Punkt. Punkt.
Shit jetzt hat mich doch noch etwas Düsternis überkommen, wo uns doch das Licht Schottlands drei Wochen lang geküßt. Ich stell mir einen Roten rein, denn da gehört er hin.
PS: die fantastischen Fotos hier sind übrigens von Momo Kohlschmidt und Peter Adler