Ein Geier spaziert über den kleinen Campground am Rio Grande. Er inspiziert die vielleicht zehn Wohnmobile, checkt die Lage. Sein roter Kopf und die kleinen, schwarzen Augen geben ihm ein halbmenschliches Anlitz. Mich erinnert er an einen Trunkenbolt der im Neubaugebiet auf dem Nachhauseweg seine Hausnummer vergessen hat. In der Luft kreisen Black Hawks, schwarze Falken. Der Geier weiß, wenn sich hier was finden lässt, dann muss er zu Fuß gehen, sonst sind die Falken schneller. Er setzt sich demonstrativ auf unseren Tisch und spreizt sein Gefieder gute zwanzig Minuten lang. Balzt er mit uns?
Hier im Big Bend National Park scheint die ganze Natur mit uns zu balzen. Ganze zwei Stunden brauchen wir mit dem Camper, vom Eingang bis zum Endpunkt an der mexikanischen Grenze am Rio Grande. Die Berge sind gewaltig, majestätisch und overvelming, wie der Amerikaner sagen würde. Karl May hätte dies sehen sollen, er hätte mit dem Schreiben aufgehört. In smoother Fahrt lässt man die Fels-und Gebirgsketten, die der Chihuahua-Wüste ihren großen Glanz geben, in sich hineinfließen und man wird ganz still, die Sinne sind geschmeichelt.
Das alles war Apachenland, Rückzugsland, hier gab es keine weißen Siedler. Endah, wie Hermann Lehmann bei den Apachen hieß, hat hier oft die Grenze nach Mexiko überquert, wenn er in Guerilla-Art in kleiner Gruppenstärke zu Überfällen auszog. Pferde zu stehlen, Weiße wie Mexikaner zu skalpieren, marodierend und sich treiben lassend, bis die Beute fett genug war zum Zurückkehren.
Es ist sehr heiß hier und wir werden erinnert, dass es eben doch eine Wüste ist, die die Schönheit hier gebiehrt. Auch die Apachen konnten hier nicht dauerhaft bleiben. Der Häuptling Carnoviste, Hermanns Meister schickte ihn mit zwei weiteren Apachen weit in den Westen ein neues Land zu finden, für den Stamm. Carnoviste wusste, dass der weiße Siedler immer zahlreicher und letztlich mächtiger wurde. Hermann und sein Trupp kam, nach dem er die Wüsten von New Mexiko und Arizona durchquerte, wohl in die Sierra Nevada, genau weiß er es nicht. Unter großen Mühen gelangten sie in gebirgiges unbewohntes Land, voller Wildbret, Wasser und satter Weide, wie gemacht für die Apachen. Kurz vor der Zurückkehr entdeckten sie noch eine Höhle und darin seltsame gelbe Steine, die recht schwer erschienen. Hermann steckte sich ein paar davon ein. Bei der Rückkehr gab es ein großes Powwow. Die Apachen würden in ein neues Land aufbrechen. Mitten in der Jubelfeier zeigte Hermann Carnoviste eher nebenbei die seltsamen gelben Steine. Carnoviste runzelte die Stirn und sagte, dorthin werden wir nicht gehen können. Dies sei Gold und wo es Gold gibt, währt der Frieden nicht lang. Das Fest nahm ein jähes Ende.
Nach zwei Tagen im Big Bend cruisen wir 600km nach Nordosten in den german belt, Hermanns Heimat in Loyal Valley. Hier siedelten sich vor 180 Jahren vornehmlich deutsche Siedler an. Hermanns Eltern kamen aus Sorau aus der Lausitz, heute Zari in Polen. Wie so viele waren sie vor Hunger, Armut und dem ewig auswegslosen Leben unter den europäischen Monarchen geflohen. Die Verheißung einer neuen Welt muss ungeheuer anziehend gewirkt haben.
Zum ersten mal auf der Reise entwickle ich eine tiefere Empathie mit den frühen Pionieren der Vereinigten Staaten. Ich kann ihre Gründe und Motive nachvollziehen und verstehe, dass sie um Tod und Teufel ihre neue Existenz zu verteidigen suchten.
In Kenntnis, dass die an der Frontier lebenden Siedler unmittelbar mit der Rauhheit der Natives aneinander gerieten, die ihnen die Kinder raubten, die Häuser ansteckten, die Pferde stahlen und oft genug eine grausame Handschrift diverser Greueltaten hinterließen, lässt einen nicht verwundern, dass die Siedler sich zusammentaten, Bürgerwehren wie die Texas Rangers gründeten und von ihren Repräsentanten in Austin Lösungen erwarteten. Dass daraus Endlösungen wurden, mag dem schauderhaften Karrussell der Gewaltspirale geschuldet sein.
Zur Ehrenrettung der deutschen Siedler mag man anführen, dass sie unter Otfried Hans von Meusebach die einzigen waren, die einen dauerhaften Frieden mit den Comanchen, zu denen Hermann später übertrat, schließen konnten. Von Meusebach muss ein großer Humanist gewesen sein, eine Ausnahmeerscheinung. Er legte hier in Texas seinen Adelstitel nieder und verhandelte mit den Comanchen auf Augenhöhe, ohne doppelten Boden und Hinterlistigkeiten.

„Wenn mein Volk für eine Zeitlang mit Euch gelebt hat und wenn wir uns gegenseitig besser kennen, dann mag es vorkommen, dass einige heiraten möchten. Bald werden unsere Krieger Eure Sprache lernen. Wenn sie dann wünschen, ein Mädchen aus Eurem Stamm zu heiraten, sehe ich darin überhaupt kein Hindernis, und unsere Völker werden so viel bessere Freunde. Mein Bruder spricht von einer Barriere zwischen den roten Männern und den Bleichgesichtern. Ich schätze meine roten Brüder nicht geringer, weil ihre Haut dunkler ist, und ich halte nicht mehr vom Volk der Weißen, nur weil ihre Hauptfarbe heller ist.“
Die Comanchen spürten seine Aufrichtigkeit. Dieser Vertrag ist der einzige zwischen Weißen und Natives, der nie gebrochen wurde und er wird noch heute von beiden Seiten jährlich gefeiert. Bemerkenswert erscheint mir auch, dass im amerikanischen Bürgerkrieg die meisten Deutschen in Texas den Dienst an der Waffe ablehnten, da sie für die Sklaverei nicht einzutreten vermochten. Viele wurden für die Dauer des Bürgerkrieges der Konförderierten gegen die Nordstaatler inhaftiert.
Dennoch und gerade, aus all den Schlamasseln auferstand die amerikanische Nation. Und wo wir auch immer durchkommen, begegnen wir vor fast jedem dritten Haus dem Star Spangled Banner, der ikonografischen Flagge Amerikas. Der Patriotismus ist in jeder Begegnung mit den immer herzenswarmen und überfreundlichen Amerikanern zu spüren. Und alles in allem nimmt man ein tiefes Bad in der Geschichte, die weit ins heute hinein atmet. Ich muss an den Irak denken, an Isarel und auch an Syrien. Das ganze Grauen und die Vergeblichkeit. Graue Horizonte und keine neue Welten mehr.

Dos Rios unser gestriger und heutiger Campground am Llanos-River im Mason-Couty ist sehr malerisch in grünen Hügeln gelegen. Hier hat der zehnjährige Hermann seine erste Nacht in Gefangenschaft der Apachen verbracht, die hier rasteten, ihn übel misshandelten und fester aufs Pferd banden. Wir atmen das alte Grenzland zwischen Siedlern und den Wilden. Wir atmen unsere letzten historischen Eindrücke und diskutieren die Unmöglichkeit der moralischen Bewertung all der Ereignisse. Unser Herz ist mit den Natives, unser Verstand hätte sich vor hundertfünfzig Jahren vielleicht ähnlich der Flüchtlinge aus der Lausitz entschieden.
Morgen geht es ans Grab von Hermann im Loyal Valley und dann nach Fredericksburg der kleinen Hauptstadt des german belt.