Wir lieben Zahlen. Und wir sind gut im Rechnen. Sorgfältig vergeben wir jedem Tun einen Zeitabschnitt. Das gilt auch für das Nichtstun. Daraus entsteht ein Tagesplan. Und wenn er lückenlos ist, dann ist er perfekt. Wir können uns entspannen und eins nach dem anderen abarbeiten. Deshalb ist auch Pünktlichkeit für uns das A und O (Künstler ausgenommen). Ein Zeitplan muss funktionieren. Und daran dürfen wir nicht zweifeln. Uns, den erfahrenen Planern, kann sowas wie Zugverspätung o.ä. nicht aus dem Gleichgewicht bringen, denn solche Eventualitäten berücksichtigen wir selbstverständlich mit. Und wenn etwas ganz schief gehen sollte, greifen wir an das Zauberwort – Höhere Gewalt, und sind damit aus dem Schneider. Nur nicht zweifeln.
Neuguineas dagegen finden das Rechnen und überhaupt die Zahlen, überbewertet.
Der Häuptling eines Dorfes erzählt mir über seine große Familie. Meine Frage nach der Alter seiner Kindern ist wohl irritierend, denn er muss eine Weile nachdenken. Zögernd sagt er, dass seine Tochter ca. 20 – 22 Jahre alt ist und der jüngster seiner drei Sönnen – ungefähr 10 – 12. Er selber ist, wie er so schön sagt, nearly fourty. Das ist ja cool. Man vergibt sich ein Alter nach Gefühl.
Unsere Fragen bringen Neuguineas ständig in Bedrängnis. Denn wir wollen alles genau wissen, der Kuckuck weiß warum. Wie kalt ist es da oben, in Grasland? Die Antwort ist – kalt. Wir fragen nach Grad Celsius und merken gleich, es ist zu viel verlangt. Wir lassen es dabei und versuchen zu erfahren, wie viele Kilometern ist die Strecke, die wir gehen müssen, wie hoch werden wir steigen, wie viele Stunden würden wir dafür brauchen. Sie schauen uns Verständnislos an – was soll denn diese Neugier, der Weg wird doch nicht kürzer dadurch. Dann rücken sie doch mit irgendwelchen Zahlen raus, die aber eindeutig nicht übereinstimmen. Wir geben auf.
Unterwegs mittels GPS sammeln wir akribisch die Daten – Entfernungen zwischen den Stationen, die Höhenmeter, durchschnittliche Laufgeschwindigkeit der Gruppe usw. Alles wird aufgeschrieben. Jetzt haben wir unsere Zahlen und können uns endlich daraus ein klares Bild der gelaufenen Strecke machen. Als wir später diese wertvolle Information an unseren Guide überreichen, bedankt er sich höflich. Aus seiner Sicht ist es aber das überflüssige Wissen. Denn eins weiß er genau, die Wege werden dadurch weder kürzer noch länger.
Eine Zeit mit den Neuguineas auszumachen gehört auch zu einer Art sinnloser Beschäftigung. Trotzdem versuchen wir das immer wieder. Wir lernen schnell, dass man hier mit den Zahlen nicht weit kommt. Am besten also mit Tageszeiten, oder mit Worten wie „danach“, „später“, „nach dem Frühstück“, „wenn das Wetter gut ist“ zu operieren. Ein Uhrzeit-Vorschlag macht den Menschen hier nervös. Mehrere Male wiederholt wird das Handy aus der Hosentasche gezogen und wieder reingesteckt, die ganze Körpersprache verrät eine verzweifelte Suche nach einer Lösung. Denn wie soll man sich bitte schön an sowas Abstraktem wie einer Zahl orientieren?
Wir bleiben bei der Gewohnheit die Pläne zu schmieden, Tag für Tag. Trotzdem wissen wir, morgen legen wir wieder erst los, „wenn es soweit ist“.
2 Kommentare zu „DIE ZAHLEN“
Interessant zu lesen. Ich wünsche Euch einen absturzfreien Rückflug und bin in Reykjavik daran erinnert, wie ich mit einer Flugmaschine von Sumatra nach Malaysia ähnliches erlebte. Druckabfall in der Kabine. 27 h später in der reparieren Machine erneute Probleme. Nun streikten die Passagiere. Der Pilot wurde gezwungen alle aussteigen zu lassen. Wir wurden auf Luxushotels verteilt. Der erneute Versuch mit neuem Flugzeug und neuer Crew glückte. In Frankfurt Anschlüsse finden, war nur mit Androhung von Klagen erfolgreich. Mit einem Miniflugzeug nach Berlin, die heftigen Turbulenzen ausgesetzt war. In Schönefeld dann, kein Gepäck. Das war im Nirwana verschwunden. Dumm nur, weil der Wohnungschlüssel dabei war…Ich drücke Euch die Daumen!
So einfach und uns Zivilisationshornochsen fällt es so schwer. Eigentlich verrückt, was wir sonst alles schaffen, bearbeiten, verarbeiten, erforschen…im Übrigen sehr oft mit der Motivation Zeit/ Zahlen zu sparen. Und was fangen wir damit an? Wir reisen z.B. in ferne Länder und kommen in unserem Sein nicht klar mit der Zeit/Zahlenvorstellung des vermeintlich Fremden.
Inmitten der Diamirschlucht, am Ende meiner Körperkräfte, die ich verschwendet hatte mit Höhenkrankheit, Montezumas Rache und hochgewürgtem Wasser, bei 40 °C und stetigem Steigen ohne sichtbares Ende, in der 11.Stunde, schrie es immer wieder in mir, dass DIE DOCH GESAGT HÄTTEN; ES DAUERE NUR 5 STUNDEN DURCH DIESE VERDAMMTE SCHLUCHT. Genützt hat das nichts. Wahrscheinlich sogar noch mehr Kraft gekostet. Und trotzdem, MIT dieser Erkenntnis JETZT: Würde ich es nun nach Jahren denn anders machen?
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